Systematische Theologie

Manuel Schmid: Kämpfen um den Gott der Bibel

Manuel Schmid: Kämpfen um den Gott der Bibel. Die bewegte Geschichte des Offenen Theismus, Systematisch-theologische Monographien 27, Gießen: Brunnen, 2020, geb., 379 S., € 40,–, ISBN 978-3-7655-9114-3


Ausganspunkt von Manuel Schmids Monografie ist der grundsätzlich zutreffende Befund, dass der Open Theism im US-Evangelikalismus eine breite Tendenz ausmacht und vielfach und kontrovers debattiert wird. Schmids Monografie ist ein Seitenstück zu seiner, eher in systematischer Absicht publizierten Dissertation (Gott ist ein Abenteurer. Der Offene Theismus und die Herausforderungen biblischer Gottesrede, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2019). Durch Podcasts und Blogs strahlt dieser Einfluss auch in die deutschsprachige Szene aus und wirkt in Gemeinden in eine Richtung, die sich tendenziell mit dem Label des „Post-evangelikalen“ verbindet.

Als Grundanliegen des Open Theism identifiziert Schmid, dass Gott in seinem Wesen Liebe sei und deshalb aus dieser Liebe heraus die Welt schaffe (21f). Dies schließe ein, dass Gott dem Menschen Freiheit gebe. Gott gebe damit seine Allmacht preis und räume dem Menschen Freiräume ein. Weitere anthropomorphe Formulierungen kommen mit ins Spiel: Gott sei ein „Abenteurer“, er stehe mit dem Menschen in einer Liebesbeziehung und sei mit dem Menschen gemeinsam „unterwegs“: eine Phraseologie, die in der etablierten landeskirchlichen Theologie und Kirche seit den sechziger Jahren begegnet. Auffällig sind die permanenten Anthropomorphismen, die menschliche Verhaltensweisen und Orientierungen in Gott hineintragen. Zugleich präsentieren sich die Exponenten des Open Theism als bibelorientiert. Es gehe darum, die Spannungen und die Dynamik des biblischen Zeugnisses besser erfassen zu können als im Schema eines „klassischen“ Theismus. Dabei wird in unterschiedlichem Ausmaß von dessen Schema abgewichen. Clark Pinnock etwa betont, dass Gottes Charakter und seine Ansichten unwandelbar seien, er aber in Reaktion auf die sich wandelnde Schöpfung und sogar auf die Weltgeschichte variable Handlungen an den Tag legen könne.

Schmids Monografie ist in der präsentierten Form in erster Linie ein Literaturbericht, der mit Sympathie verfasst ist, aber zwischen den Zeilen immer wieder Signale setzt, selbst nicht zu sehr mit dem Open Theism identifiziert zu werden. Die Debatten, die einzelne Open Theism-Beiträge nach sich gezogen haben und ebenso die kritischen Reaktionen werden sehr detailliert aufgenommen. Schmid lässt den Leser durch sehr viele Pfützen waten, damit er erfährt, dass es geregnet hat. Immerhin wird deutlich, dass sich der Open Theism über Konvente, Tagungen, Resolutionen mehr artikuliert als über einzelne Monografien. Das Interessanteste ist dabei, die sozialen, konfessionellen und Bildungshintergründe der Exponenten kennenzulernen. Exemplarisch bei Clark Pinnock lässt sich eine Entwicklung vom strengen Calvinismus hin zum Arminianismus beobachten.

Zu einer Orientierung in dem Dickicht verhilft, dass der Verf. drei verschiedene Phasen der Open Theism-Bewegung unterscheidet: Eine formierende Phase, die mit frühen Arbeiten von Pinnock, Sanders und anderen einsetzt. Richard Rices schmale Monografie The Openness of God. The Relationship of Divine Foreknowledge and Human Free Will (Nashville, Review and Herald, 1980) bezeichnet einen ersten Höhepunkt. Rührig war hier vor allem Pinnock, der eine Reihe von Sammelbänden herausgab, Annäherungen an die Prozesstheologie im Ausgang von Whiehtead signalisierte und einen gegenüber dem evangelikalen Kernmilieu „postkonservativen“ Kurs (105ff) etablierte.

Die zweite Phase wird von 1984 bis 2003 unter dem Label „Kontroverse Phase“ abgehandelt. Hier hat Gregory A. Boyds Dissertation Trinity and Process. A Critical Evaluation and Reconstruction Of Hartshorne’s Di-Polar Theism Towards a Trinitarian Metaphysics (New York: Peter Lang, 1992) ihren Auftritt. Eine Fallstudie gilt der Stellung der Baptist General Conference zu Boyd. John Piper, ein weiterer „Podcast-Held“, erwies sich als eigentlicher Kontrahent Boyds. Piper stellte seinerzeit den Häresievorwurf in den Raum. Er kritisierte vor allem, dass mit der von Boyd vertretenen Openess of God Gott eine „bodenlose Unwissenheit“ über den Lauf der Welt zugeschrieben werde (153). Boyd formulierte seine eigene Position mit besonderer Prägnanz in dem veröffentlichten Briefwechsel mit seinem Vater: Letters from a Skeptic (1994, dt. Briefe eines Skeptikers und Antworten auf die zentralen Fragen des Glaubens, Neuhausen-Stuttgart: Hänssler, 1997), einem Buch, das immerhin in 20 Sprachen übersetzt und 25.000 Mal verkauft wurde. Schmid vermutet wohl zutreffend, dass die Debatten um das Vorherwissen Gottes auch durch dieses Buch in weiteren Pastorenkreisen heiß diskutiert wurde. In Kurzform artikuliert Boyd dort seine Auffassung von einem „Vorherwissen Gottes“: Gott kenne die gesamte Realität. Freie Entscheidungen werden aber erst realisiert, indem sie getroffen werden. Im Zug der gleichen Sophismata unterscheidet Boyd nicht hinreichend zwischen Schöpfer und Geschöpf. Darin deutet sich die Tendenz an, die auch in manchen Ansätzen analytischer Religionsphilosophie im Ausgang von Plantinga und Swinburne erkennbar ist. Gänzlich offensichtlich wird dieser Kipppunkt anthropomorpher Gottesrede, der Gott nicht mehr Gott sein lässt, wenn später in der „konsolidierenden Phase“ (s. u.) das psychologische Standardmodell „Big Five“ oder OCEAN (Openness im Rahmen von Conscientiousness, Extraversion, Agreeableness, Neuroticism) auf den Gottesbegriff übertragen werden soll (299ff).

Obwohl sich die „Committed Pastors“ (Gegenbewegung zu den „Concerned Pastors“ in der US-amerikanischen „Baptist General Convention“) zunächst mit Boyd solidarisch erklärten, führte die Diskussion letztlich zum Rücktritt von Boyd als Professor an der Huntington University. Eine Parallelaktion ereignete sich in der „Evangelical Theological Society“ (ETS) um zwei weitere Vertreter des Offenen Theismus, John Sanders und Clark Pinnock. Trotz breiter Unterstützung verschiedener Kreise führt auch diese zur Kündigung der Universitätsstellen. Ebenfalls in jener Phase kommt es zu einer Reihe umfangreicherer Monografien aus dem Umkreis des Open Theism. Schmid spricht von „Gesamtentwürfen“ von Sanders und Pinnock.

Ab ca. 2003 flauten die hitzigsten Debatten ab und es trat eine „konsolidierende Phase“ ein, mit Konzentration auf analytisch-philosophische Feinmechanik und entsprechende Debatten: im Fokus stehen das Vorauswissen Gottes und der ontologische Status der Zukunft. Zugleich beginnt die Historisierung dieser „Bewegung“. Es werden bereits Dissertationen über sie geschrieben, darunter auch die oben erwähnte von Schmid selbst.

In den weiterführenden Überlegungen (285ff) versucht Schmid, den Offenen Theismus als „modernes“ Phänomen einzuordnen. Die Begrifflichkeit ist an diesem neuralgischen Punkt bemerkenswert unscharf. So finden sich keine trennscharfen Schnitte zwischen „modern“ und „postmodern“. Dass Subjektivität und Zeitgeist eine legitime Rolle im Konzept des Open Theism spielen sollen, ist ein durchgehendes Plädoyer. Eine „Reformbewegung, die den überkommenen Glauben neu zu begreifen“ suche, trage die Signatur der eigenen Zeit (243). Das mag so sein. Sie sollte sich aber an der Heiligen Schrift und der Vernunft, nicht zuletzt am Magnus Consensus prüfen, anstatt Pirouetten im Binnendiskurs zu ziehen. Weder von Augustin noch von Luther ist hier die Rede.

Dass Schmids Dissertation, die nicht Gegenstand dieser Rezension ist, durch eine weitgehende Aussparung der eigentlichen Mitte des Verhältnisses zwischen Gott und Mensch auffällt, ist hier nur am Rand relevant: Im Blick auf das abschließende „fröhliche Bekenntnis“ zu dem Mensch gewordenen Gott als einem „Deus ridiculus“ kommt freilich das Ganze der Gotteslehre zur Sprache (321).

Darauf kann mit dem Spitzensatz von Luthers Römerbriefvorlesung 1515/16 am präzisesten geantwortet werden: „Deus est mutabilis quam maxime“. In höchstem Grade veränderlich ist Gott nämlich, indem das menschliche Herz ihn Gott sein lassen oder ihn zum Dämon oder Teufel machen kann.


Prof. Dr. Harald Seubert, Ordentlicher Professor für Philosophie, Religions- und Missionswissenschaft an der Staatsunabhängigen Theologischen Hochschule Basel